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„Man soll nie die Geschichte verschweigen.“

Kehl erinnert sich
1919—1953

Die Geschichte einer Kleinstadt am Rhein
an der Grenze zu Straßburg
durch Republik, Diktatur und Nachkriegszeit
in der Erinnerung von 150 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen.

Ein Oral-History-Projekt der Zeitzeugen-AG
am Einstein-Gymnasium Kehl.

Über das Projekt

Im Oktober 2015 saß Helmut Schneider aus Kehl-Kork in einem Klassenzimmer des Einstein-Gymnasiums in Kehl vor einem mp3-Aufnahmerekorder, umgeben von einer kleinen Schülergruppe. Als erster Zeitzeuge war er dem Ruf der damals frisch gegründeten Zeitzeugen-AG gefolgt, um Fragen zu seiner Kindheit und Jugend zu beantworten – es war das erste von über 170 Interviews mit rund 150 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die bis Oktober 2019 zustande kamen. Aus dem Rohmaterial sind im Laufe des Projekts drei Hörbücher entstanden mit thematisch in Kapitel geschnittenen Collagen, die sich über die Jahre von 1919 bis 1953 erstrecken. Zur Veröffentlichung der Hörbücher haben wir in den drei aufeinander folgenden Jahren (2016—2018) alle Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu einem festlichen Abend eingeladen und ihnen das Hörbuch als Geschenk überreicht.

Dieses Online-Portal bietet nicht nur den Inhalt der Hörbücher, sondern erweitert ihn um weiteres Interviewmaterial und bietet ein Erinnerungsportal für die Kehler Stadtgeschichte, das auch noch in Zukunft ergänzt werden kann, um weitere Epochen. Was war der Ursprungsgedanke des Projekts? Zum einen wollten wir uns mit der Zeitzeugen-AG einer Vergangenheit annähern, die für uns Fragesteller weit entfernt lag: Wie hatte der Alltag von Menschen ausgesehen, die in den 1920er- und 1930er-Jahren geboren waren? An welche Ereignisse würden sich diese noch erinnern? Welche Erfahrungen waren ihnen bis in die Gegenwart wertvoll geblieben?

Der Zugang zur Geschichte über die erzählten Erinnerungen sollte bei dem Projekt „Kehl erinnert sich“ maßgeblich sein. Bei den Interviews haben wir bewusst auf Videoaufzeichnungen verzichtet und uns auf reine Audioaufnahmen beschränkt. Insofern ist jeder Hörer der Interview-Collagen allein mit den Stimmen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen konfrontiert. Im Erinnern haben die Stimmen der Befragten ihre individuelle Färbung, einen eigenen Klang und oftmals eine mehr oder weniger starke dialektale Prägung. Im Gegensatz zu schriftlichen Zeugnissen werden Betonung, Rhythmus und Sprechmelodie deutlich und lassen einen Rückschluss auf die Gefühle der Interviewten zu.

Wir haben Wert darauf gelegt, viele Menschen zu befragen, um uns aus möglichst zahlreichen Perspektiven der Vergangenheit anzunähern. „Kehl erinnert sich“ konzentriert sich dabei auf eine Kleinstadt und ihr unmittelbares Umfeld: Beinahe alle von uns befragten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen haben ihre Kindheit und Jugend in Kehl oder in einer der benachbarten Gemeinden verbracht. Ein Großteil lebte – unterbrochen durch die kriegsbedingten Evakuierungen Kehls – ein Leben lang an diesen Plätzen. Ihre Stimmen ermöglichen in den Hörcollagen nicht nur einen sehr subjektiven Zugang, sondern schaffen auch ein Mosaik aus lokal konzentrierten Erinnerungen, das oft zu einem zweifachen Vergleich einlädt. Erstens können die Aussagen der Befragten in ihrem Verhältnis untereinander betrachtet werden: Sie wiederholen und ergänzen sich, zeigen aber auch ambivalente Züge und Widersprüche auf. Zweitens laden sie den Hörer persönlich zum Vergleich ein: Wer in Kehl aufgewachsen ist, trifft beim Hören durchweg auf Straßen, Orte und Plätze, die ihm einerseits vertraut oder zumindest bekannt sind. Aber auch wer nicht mit der Stadt vertraut ist, wird in den individuellen Erinnerungen sicher die Möglichkeit finden, sie mit den eigenen Lebenserfahrungen abzugleichen, zumal es sich in vielen Fällen um prägende Kindheits- und Jugenderfahrungen im Alltag handelt, die nicht ortsgebunden sind.

Die ersten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen von „Kehl erinnert sich“ verdanken wir der Kooperation mit dem Archiv und Museum der Stadt Kehl. Dieses plante eine Ausstellung über die Zeit der sogenannten Zweiten Evakuierung. Damals mussten die Kehlerinnen und Kehler am 23. November 1944 ihre Heimatstadt fluchtartig in dem Moment verlassen, als die Alliierten das benachbarte Straßburg befreiten. Erst neun Jahre später konnten die letzten Bewohner 1953 wieder in das von Frankreich zwischenzeitlich de facto annektierte Kehl zurückkehren. Durch unser beiderseitiges Interesse, die Erinnerungen der Menschen festzuhalten, ergab sich schnell eine intensive Zusammenarbeit: Kehlerinnen und Kehler, die bereits in Kontakt mit dem Stadtarchiv standen, konnten für ein Interview an unsere AG weitervermittelt werden. Zum Teil waren es Personen, die der Ausstellungsmacherin und Leiterin von Archiv und Museum der Stadt Kehl, Dr. Ute Scherb, bereits interessante Dokumente und Objekte überlassen hatten. Damit war für das folgende Gespräch ein erster Anknüpfungspunkt gegeben. Zugleich konzentrierten wir uns bei diesen ersten Interviews auf die Fluchtgeschichten und den Werdegang der Menschen in dieser für sie besonderen „Zwischenzeit“ von 1944 bis 1953. Auszüge aus den sehr persönlichen Interviews ergänzten später die Dokumente und Objekte der Ausstellung in Form von 18 Hörstationen, die thematisch Bezug auf das jeweilige Ausstellungskapitel nahmen. Durch diese Kooperation war der Grundstein für „Kehl erinnert sich“ gelegt.

Eine der effektivsten Möglichkeiten, weitere Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu gewinnen, bestand darin, die Befragten darum zu bitten, uns bei unserer Suche weiterzuhelfen. So gelangten wir zu Nachbarn, ehemaligen Schulfreundinnen, Spielkameraden oder auch Verwandten, die uns ebenfalls unterstützten und sich mit einem Interview einverstanden erklärten. Stammten die ersten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus der Kernstadt, halfen in den Ortschaften die Vorsitzenden von Heimatvereinen weiter bei der Suche nach geeigneten Gesprächspartnern. Ebenso unterstützten uns lokale Historiker bei der Vermittlung von Interviews mit ehemaligen jüdischen Einwohnern Kehls, die den Holocaust im Konzentrationslager oder die rechtzeitige Emigration überlebt hatten. Entsprechend dehnte sich auch die Suche nach Interviewpartnern räumlich aus, von der Kernstadt und ihren Ortsteilen zu umliegenden Gemeinden, zu Städten wie Blaubeuren, Reutlingen, Rastatt und Leutkirch im Allgäu, wo es befragte Zeitzeugen durch die Evakuierungen Kehls und die Kriegsereignisse hinverschlagen hatte. Und schließlich führten auch Reisen nach Tel Aviv und in seine Vororte.

Die Erinnerungen der daraus entstandenen Hörcollagen handeln von zahlreichen weiteren Alltagsthemen in unterschiedlichen Zeiträumen, von Erlebnissen in der Kinderschule, von Streichen und Kinderspielen auf der Straße, von Erlebnissen an Altrhein und Rhein, an Kinzig und Schutter. Die Befragten erinnerten sich an Großeltern und Verwandte, an Vieh und Felder, die ihre Familien besessen haben, an Haustiere, an alte Geschäfte, die längst nicht mehr oder immer noch existieren, an große Fabriken, die wie die Zellulose-Fabrik Trick-Zellstoff oder die Hutfabrik Rehfus nur noch Kehler Geschichte sind. Die Collage beinhaltet Lebensläufe, Gewalterfahrungen und Erlebnisse aus den ersten Jahren des „Dritten Reichs“ ebenso wie aus Kriegs- und Nachkriegsjahren. Dieses Mosaik aus Erinnerungen weist sicherlich in seiner Aussagekraft Grenzen auf – wie sich die Menschen damals gefühlt, was sie gedacht haben und auch die Auswirkungen von Erziehung und Sozialisation in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ wird kein heutiger Hörer unmittelbar nachvollziehen können. Die Hörcollagen stellen immer nur eine Annäherung dar. Von Anfang an stand dabei im Mittelpunkt, den Menschen Raum zum Sprechen zu geben, die Erinnerungen miteinander zu verknüpfen und sich damit aus vielen Perspektiven der Vergangenheit zu nähern. „Kehl erinnert sich“ schlägt Brücken mithilfe der Erinnerungen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, solange diese noch sprechen können, und bewahrt ihre Stimmen für die Zukunft: Seit dem Beginn des Projekts im Oktober 2015 sind zahlreiche Interviewpartner verstorben.

Die Hörbücher sind ein Angebot, sich mit ihren Stimmen nicht nur auf das Erzählte einzulassen, sondern überdies eine Aufforderung, sich selbst Gedanken über unsere Geschichte zu machen, offenen Fragen und Widersprüchen nachzugehen. Zugleich mag sich gerade im persönlich Erlebten, in der individuellen Erinnerung etwas widerspiegeln, das uns selbst bekannt vorkommen kann und mitfühlen lässt: Über den Lauf der Zeit hinweg gibt es doch trotz aller Veränderungen immer wieder auch Gemeinsamkeiten im Leben zu entdecken. Man wird als Hörer vielleicht mit manchem Zeitzeugen beim Zuhören lachen über die heiteren Episoden, staunen über unterschiedliche Erfahrungen, entrüstet sein über Ungerechtigkeiten und erschüttert über so viel Unmenschliches, was damals geschah. Im besten Fall wird diese Hörcollage dazu anregen, sich Gedanken über die eigene Kindheit und Jugend zu machen, ja über das eigene Erinnern und seinen Wert. Und schließlich und nicht zuletzt soll diese Hörcollage auch eine Mahnung sein in Zeiten, wo manche sich allzu gerne von der Vergangenheit für immer abwenden wollen. Wer in Kehl etwas über Zwang, Ausgrenzung und Entrechtung, Terror und Verfolgung erfahren oder lernen will, muss nicht auf eine weite Reise gehen – alles geschah auch hier vor Ort.


Weiterführende Literatur zum Projekt und zur Kehler Geschichte von 1919 bis 1953:

- Uli Hillenbrand: Das Oral-History-Projekt „Kehl erinnert sich“ – ein Erfahrungsbericht. In: Revolutionäre Jahre auf dem Land. Vom Kriegsende 1918 zur Weimarer Republik in Mittel- und Südbaden. Hg. von Andreas Morgenstern. Heidelberg 2019, 173-189.
- Nicolas Rosenthal: Hagada des 20. Jahrhunderts. Ein Vermächtnis. Mit Einführung und Anmerkungen von Rolf Kruse jun. sowie Berichten über das Schicksal der Juden in Kehl und im Hanauerland während des Dritten Reichs von Friedrich Peter. Kehl 2000.
- Ute Scherb: Deutsch oder französisch? Das besondere Schicksal der Stadt Kehl am Ende des Zweiten Weltkriegs. In: Vom Nationalsozialismus zur Besatzungsherrschaft. Fallstudien und Erinnerungen aus Mittel- und Südbaden. Hg. von Heiko Haumann und Uwe Schellinger. Heidelberg 2018, 161-185.
- Ute Scherb: Epochenwechsel in Kehl – das Jahr 1919. In: Jahresschrift 2018. Hg. von der Stadt Kehl. Kehl 2018, 125-139.
- Stadt Kehl (Hg.): Goldene Zwanziger? Kehl in der Weimarer Republik. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Hanauer Museum. Kehl 2019.
- Hartmut Stüwe: Kehl im Dritten Reich. Stadtgeschichte 1933 bis 1945. Eine Dokumentation des Stadtarchivs Kehl zu der gleichnamigen Ausstellung im Hanauer Museum 1995/1996. Kehl 1997.

Bildquellen:

- Stadtarchiv Kehl / Hanauer Museum Kehl
- Karl Britz
- Karl Keck
- Uli Hillenbrand
- Privatbesitz

Zeitzeugen-AG

„Kehl erinnert sich“ entstand im Rahmen der Zeitzeugen-AG am Kehler Einstein-Gymnasium. In dieser kleinen AG haben wir uns seit ihrer Gründung im Schuljahr 2015/2016 mit historischen Themen beschäftigt, insbesondere anhand der bewegten Stadtgeschichte Kehls. Wir haben Zeitzeuginnen und Zeitzeugen befragt, Museen, Ausstellungen, Ruinen, Erinnerungsstätten und Friedhöfe besucht. Beim bundesweiten Schülerwettbewerb "Erinnerung sichtbar machen - 80 Jahre Reichspogromnacht" der ZUM: „Zentrale für Unterrichtsmedien im Internet e. V.“ im Jahr 2018 hat unsere Dokumentation „Ein Tag im November – 10.11.1938 in Kehl“ den mit 2000 Euro dotierten 3. Platz gewonnen:

Mit dem Preisgeld haben wir Bäume gegen das Vergessen direkt neben der Passerelle am Rhein gespendet. Im März 2018 haben wir die erste Stolpersteinverlegung für ein „Euthanasie“-Opfer in Kehl gestaltet. In der Bildgalerie finden Sie ein paar Einblicke in die Aktivitäten der letzten Jahre seit der AG-Gründung.


CD/Dank/Kontakt:

Hörbücher:

Zu großen Teilen sind die Zeitzeugen-Erinnerungen, die im Online-Portal zu hören sind, als CD veröffentlicht worden. Für die finanzielle Unterstützung danken wir nochmals herzlich dem Historischen Verein Kehl e.V., dem Förderverein des Einstein-Gymnasiums und dem Kulturbüro der Stadt Kehl. Sie können die Hörbücher im Hanauer Museum oder in der Buchhandlung Baumgärtner in Kehl erwerben. Bei Interesse können Sie auch die Kontaktmöglichkeit unten nutzen.

Dank:

Für die großzügige finanzielle Unterstützung bei Erstellung des Online-Portals danken wir der Bürgerstiftung Kehl. Möglich wären die Inhalte des Online-Portals auch nicht ohne die stete Mithilfe und Kooperation mit Frau Dr. Ute Scherb, Leiterin von Archiv & Museum der Stadt. Den ehemaligen Lehrern Friedrich Peter und Karl Britz verdanken wir unschätzbares Wissen um die jüdische Gemeinden in Kehl und Bodersweier als auch die Vermittlung wichtiger Zeitzeugen. Beide sind auch als Sprecher in den Collagen zu hören, wo sie die Erinnerungen mit geschichtlichen Ergänzungen einrahmen. Bildmaterial und Interviews mit vielen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen wären auch nicht möglich gewesen ohne die unermüdliche Hilfe von Karl Keck, der in Leutesheim, und Helga Grampp-Weiß, die in Diersheim auf die Suche nach Gesprächspartnern für unser Projekt gegangen sind. Gleiches gilt für Richard Schwab in Legelshurst und Hans Roser in Goldscheuer bzw. Marlen sowie Hans-Ulrich Müller-Russell und Erich Jais in Kehl. Last but not least: Das Gesamtprojekt „Kehl erinnert sich“ wurde von Beginn an durch den Historischen Verein Kehl e.V. finanziell und ideell unterstützt.

Kontakt / Impressum:

Uli Hillenbrand
Einstein-Gymnasium Kehl
Vogesenallee 24

Mail: info@kehlerinnertsich.de
Tel.: 07851 9947-0
Fax: 07851 9947-29

Design / Programmierung:

Niklas Achauer
Herderstraße 13
77694 Kehl

Mail: hi@niklasachauer.com
Tel.: 07851 484498